Von Kirsten Becker – 13. Oktober 2018
Vor ein paar Monaten besuchte ich eine Lesung der Autorin Nina Jäckle in München. Sie las aus ihrem Roman “Stillhalten”. Ich war von Anfang an von der Sprache und dem Thema begeistert. In ihrem Buch erzählt sie die bewegende Geschichte der Tänzerin Tamara Danischewski, ihrer Großmutter, die von Otto Dix 1933 als junge Frau porträtiert wurde und eine schwerwiegende Entscheidung traf.
Die Tänzerin hätte vielleicht eine große Karriere vor sich gehabt, aber sie entscheidet sich nicht für ihre Leidenschaft, sondern für die Sicherheit. So geht sie als Ehefrau in die Provinz. Das wäre kein Problem, wenn sie zu ihrer Entscheidung stehen würde. Doch das tut Tamara nicht, sondern sie hadert mit ihrem Schicksal – ändert aber auch nichts. Ihr Leben besteht vor allem aus dem Wort hätte. Dafür geht ihr Porträt auf Reisen und wird sehr berühmt: https://bit.ly/2CGxM9d
Hier eine kurze Inhaltsangabe: 1933 ist Tamara Danischewski 21 Jahre alt. Sie studiert in Dresden Tanz bei Mary Wigman und Gret Palucca. Abends tritt sie im Kabarett auf, um für sich und ihre Mutter Geld zu verdienen. Dort lernt sie den Maler Otto Dix kennen, der sie während vieler Sitzungen porträtiert, eine Freundschaft entsteht. Dann aber verlässt Dix, als einer der ersten Künstler in der NS-Zeit aus dem Lehramt entlassen, die Stadt. Tamara bekommt einige große Auftrittsangebote, doch sie geht das Wagnis eines ungesicherten Lebens als Tänzerin nicht ein. Stattdessen heiratet sie 1936 einen Mann, der ihr und ihrer Mutter zwar eine gesicherte Existenz bieten kann, Tamara jedoch das Tanzen verbietet. Alt geworden, erinnert sich Tamara an ein glanzvolles Leben, in dem noch alles möglich schien.
Ich habe meine Großmutter gut gekannt. Sie hat mir viel über den Ausdruckstanz erzählt, viel über die Zeit mit Otto Dix, als sie für ihn Modell stand. Sie war eigentlich eine Person der Bewegung, dieses Stillhalten im Atelier, sagte sie immer, das war ein Graus für mich und furchtbar anstrengend. Als das Buch geschrieben war, fand sich in diesem einen Wort “Stillhalten” der Kern des gesamten Textes wieder. Die Geschichte des Portraits, das Dix von meiner Großmutter malte, die politische Lage 1933, die Ehe später, das Leben auf dem Land, in allem taucht das Motiv des Stillhaltens auf. Tamaras bewegten, aufregenden Zeiten unter Künstlern im Dresden der späten 20ger Jahre das Stillhalten gegenüberzustellen, in das sich Tamara immer wieder begeben hatte, schien mir literarisch sehr reizvoll.
Ich habe mein Zimmer aufgeräumt und ein wenig ausgemistet. Da fand ich meine Tamara-Kiste, ich hatte sie lang nicht mehr durchgesehen. Briefe und Postkarten von Dix fand ich darin, Fotos, vor allem Tanzfotos, ein Tagebuch, Unterlagen, einen Ring und drei wunderschöne Mary-Wigman-Fotobücher. Die Ästhetik dieser Tanzwelt hat mich nicht mehr losgelassen. Und dann war mir der Text und seine Stimmung unausweichlich klar. So fühlt sich das an, wenn ein Stoff mich schnappt. Ein umwerfendes Gefühl, kein Zweifel weit und breit.
Wenn ich das wüsste! Der wolkenlose Mädchenname ist ein gutes Beispiel dafür, wie man sich mit der Sprache das Tatsächliche nimmt und mehr daraus macht, tiefgreifender abbildet, wie eben aus etwas Existierendem Literatur wird. Es gibt eine Autogrammkarte in besagter Tamara-Kiste, darauf hat sie als junge Tänzerin mit hellblauer Tinte unterschrieben. Als Unverheiratete, also mit ihrem Mädchennamen. Hellblau stand für mich, in Bezug auf die zu entwerfende Figur, sofort als „wolkenlos“ fest. In Kombination mit dem Mädchennamen ist alles gesagt, unbeschwerte, wolkenlose Zeit der jungen unverheirateten Tänzerin. Und es klingt auch noch schön. Wolkenloser Mädchenname. So spielt einem zum Beispiel eine tatsächlich existierende Karte den Ball zu, man muss ihn nur fangen. Planbar ist es für mich nicht. Aber ich vertraue darauf, dass es immer wieder irgendwie funktioniert, dem Beschriebenen Tiefe zu geben, eben literarisch über das Beschriebene hinauszureichen.
Im Buch steht es so, und besser kann ich es gar nicht sagen:
Oft bekommt Tamara Postkarten von einer Mitarbeiterin des Museums, dem das Bild gehört. Auf diesen Postkarten steht geschrieben, in welcher Stadt das Original zu sehen ist, in welchem Land also das Bild in prachtvollen Gebäuden ausgestellt wird, in Japan, in Australien, in Belgien, in Amerika, und Tamara sieht mit dem Gedanken an große Reisen das Duplikat des Bildes hängen an der tapezierten Wand in dem von Wald und Feldern umgebenen Haus. Das Bild bedeutet für sie die Weggabelung, die Entscheidung, dem fremden jungen Mann ihre Hand zu reichen, sich somit von der Bühne zu verabschieden, gleichsam von dem Gedanken, die Zukunft sei Musik und Tanz und halte besondere Schätze für sie bereit.
Es hätte Turin sein können, Mailand, Genua, es hätte Amerika sein können, und es wurde der Wald, der See, das Dorf. So steht man nun in dieser einen Variante, die man zu seinem Leben gemacht hat, schreibt Tamara in ihr Abrechnungsbuch, so versucht man nun immer wieder aufs Neue, dem Bedauern das Gelingen entgegenzusetzen. Man weiß, am Ende wird Sehnsucht in jedem Moment des Glücks und in jedem Moment des Unglücks gewesen sein, am Ende wird alles durchwoben sein von dem, was stattdessen auch hätte stattfinden können, die Sehnsucht macht ungerecht.
Ein kleiner Auszug, gelesen von Nina Jäckle:
Sie residiert im oberen Stockwerk des Hauses, sie bewohnt ihre Welt, sie erlebt ihre erfolgreichen Jahre als Tänzerin in ihrer Erinnerung immer wieder und niemand kann darin etwas verderben. Ihre Welt besteht gleichsam aus einem hehren Bedauern, die Kunst an ein sicheres Eheleben verkauft zu haben. Tamara hatte ihr ganzes Leben lang diese Gewissheit, sie sei zu Größerem geboren worden, auf eine ganz schräge Weise hat sie sich damit selbst geadelt, und so ist sie mit diesem Selbstbild, das ja Behauptung ist, niemand weiß, ob sie wirklich berühmt geworden wäre, gut durchs Leben gekommen. Ich habe sie niemals als Opfer empfunden, vielmehr hat sie sich ein edles Leiden ausgesucht und in aller Eleganz ausgelebt. Insofern bestimmte sie also sehr wohl über ihr Leben, innerhalb ihr gesetzter Grenzen. In ihrer Generation war es ja nicht unüblich, sich nach dem Herrn des Hauses zu richten. Auch darf man nicht vergessen, dass ihr Mann sie und ihre Mutter durch den Krieg brachte. So war das Dulden und Stillhalten auch eine Art Ableger ihrer Dankbarkeit.
Ein kleiner Auszug, gelesen von Nina Jäckle:
Tamara hat mir viel erzählt über die Treffen mit Otto Dix. Das Bild, für das sie ihm Modell stand, ist datiert auf 1933, Otto Dix hatte gerade seine Stelle an der Dresdner Kunstakademie verloren. Tamara war damals 21 Jahre alt, die Begegnung mit dem Maler war für sie prägend, auch hinsichtlich des politischen Geschehens, nicht nur im künstlerischen Sinne. Ich habe viel über Dix und seine Äußerungen zu dieser Zeit recherchiert und diese Recherchen zusammengeworfen mit meinen Erinnerungen an das, was Tamara mir erzählt hat. Sie wurde 82 Jahre alt, da war ich 28 und habe also auch als Erwachsene mit ihr über die Zeit in Dresden sprechen können.
Ein kleiner Auszug, gelesen von Nina Jäckle:
Veränderung bedeutet vor allem die Möglichkeit, Erzählstoff zu sammeln. Ortswechsel waren mir immer wichtig. Wenngleich ich jetzt, älter geworden und eben kein junger Hüpfer mehr, das Bleiben entdecke. Aber noch immer nicht in aller Entschiedenheit.
Sie ist Utopie.
Mein Schreibplatz sieht seit ich schreibe immer sehr ähnlich aus. Ich brauche meine Bilder vor mir an der Wand, so fühle ich mich wohl. Wenn ich nicht zu Hause schreibe, habe ich viele der Bilder bei mir und hänge sie andernorts über dem dortigen Schreibtisch auf, der immer an der Wand stehen muss, auf keinen Fall am Fenster
Ich weiß es noch nicht. Ich habe eine schöne Passage geschrieben, die mir ganz eindeutig aufzeigt, wo es hingehen soll. Diese Passage umtänzle ich gerade mit dem Notizbuch. Wie groß der Stoff werden kann, ist mir noch nicht klar.
Nina Jäckle ist Autorin von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und einem Drehbuch, für die sie einige Preise und Stipendien erhielt. „Stillhalten“ ist ihr elftes Buch. Zum ersten Mal beschäftigt sie sich mit der Geschichte ihrer Großmutter.
Nina Jäckle: „Stillhalten“.
2017, Roman,
Klöpfer & Meyer-Verlag,
190 Seiten,
20 Euro.
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