Von Kirsten Becker – 9. August 2019
Als ich vor zehn Jahren den Schritt in die Selbstständigkeit wagte, hatte ich das Bedürfnis, mich zu Fuß einfach auf den Weg zu machen. Ich entdeckte den Pilgerweg von München nach Lindau. Mit einer Freundin zusammen machte ich mich auf diesen Weg und startete damals vom Marienplatz aus. Ein tolles Gefühl, einfach loszugehen. Allerdings nutzten wir dazu verschiedene verlängerte Wochenenden und wanderten nicht am Stück. Interessanterweise hatte ich irgendwann das Gefühl, dass selbst das Gehen zu schnell war. Die Zeit ging auch hier viel zu schnell um. Es war eine tolle Erfahrung mit wirklich interessanten Erlebnissen, auch spiritueller Art. Deshalb fand ich es so spannend, als ich von Jana Wieduwilt hörte, die sich selbst als Halbtagspilgerin bezeichnet. Als Unternehmerin und Mutter erlebte die 47-jährige einen entscheidenden Moment, der ihr Leben veränderte und der sie dazu brachte, ihren persönlichen Pilgerweg zu gehen. Ich freue mich, dass Jana auf meinem Blog über ihre Erfahrungen berichtet und ein paar Tipps gibt, wie und warum jeder Pilgern in seinen Alltag einbauen sollte.
Erst einmal lieben Dank, dass ich in Deinem Blog sein darf. Es gab den Tag in meinem Leben, während einer kräftezehrenden Zeit, da beschloss ich, dass ich einfach mal weg sein werde. Ich wollte pilgern gehen, mir war alles zu viel, ich fühlte mich sehr ausgebrannt und mutlos. Mal wieder. Schon vorher hatte ich immer wieder kurze Auszeiten genommen, die mir allesamt sehr gut taten. Und dann gab mir eine Freundin den letzten Schubs, sie bestärkte mich! Jakobsweg in Spanien, das wollte ich schon seit Jahren tun. Ich habe mich entschieden und noch am gleichen Abend ein Flug-Ticket nach Spanien gekauft. Erst einen Tag später habe ich das meiner Familie mitgeteilt, dass ich für einige Wochen „weg“ sein würde. Als es ein paar Wochen später begann, das Pilgern, hat sich mein Leben geändert. Ich war ohne Vorbereitung ohne sportliche Erfahrung ohne die richtigen Schuhe am Start. Naiv? Sicher. Aber auch lehrreich. Kurz, die ersten Tage waren eine unglaubliche körperliche Anstrengung für mich. Sie waren aber auch geprägt vom tiefen Vertrauen, dass der Weg, „El Camino“ de Frances, alles bereit hält, was ich brauche. Und so war es auch. Es wurde eine wunderbare spirituelle Erfahrung.
Natürlich hatte ich den Laptop in meinem Pilgerrucksack. Denn meine Firma konnte ich nicht so einfach über Wochen „alleine“ lassen. Mein Unternehmen Wieduwilt Kommunikation, mit insgesamt inzwischen acht Mitarbeitern, berät kleine Städte und Kommunen in Sachen Kommunikation und Marketing. Da der Pilgertag ja sehr früh beginnt, war ich am frühen Nachmittag schon in der nächsten Pilgerherberge. Hier habe ich dann jeden Tag etwas gearbeitet, meinem Team Aufgaben delegiert und/oder selbst das ein oder andere Projekt geplant. Doch was ist auf dem Jakobsweg passiert? Ich konnte vormittags in aller Ruhe den Wundern des Weges folgen, konnte staunen, beten und mich ganz dem spirituellen Wesen des Weges nähern. Und am Nachmittag bin ich mit so viel Kraft und Freude an meine Aufgaben gegangen, dass ich so effektiv war, wie lange nicht mehr. Ich hatte die für mich wichtige Achtsamkeit jeden Tag in meinem Leben – genauso wie die für mich ebenso freudvolle Arbeit am und mit unseren Kunden.
Bei mir kam auf dem Weg die Frage auf, warum diese Erfahrung eigentlich nur auf dem Camino, dem Jakobsweg in Spanien, möglich sein sollte und ich überlegte, wie ich das Pilgern einfach mit nach Hause nehmen konnte. Ich beschloss: Das Gefühl nehme ich mit in mein weiteres Leben. Das tat ich, indem ich bis heute jeden Tag zuerst etwas für mich tue. Meistens gehe ich tatsächlich pilgern, etwa zwei bis drei Stunden bin ich draußen in der Natur und lasse mich von dem Wunder der Schöpfung inspirieren. Wenn das gar nicht klappt, dann mache ich zumindest meine Meditationen, lerne gerade Yoga und liebe es, meine Tagebuchseiten vollzuschreiben.
Kraft, Frieden. Ich bin in meiner Mitte, wenn ich draußen sein kann, nur mit mir und der Natur. Wenn ich staunen, erkennen und in meinem Tempo laufen oder machen kann, dann bin ich in absoluter Selbstbestimmtheit, im Frieden. Und in meiner Balance. Trotzdem kann und möchte ich für meine Kunden, für meine Familie und für meine Mitarbeiter da sein. Das ist das Lebenselixier in der anderen Waagschale. Beides brauche ich, um in meiner Kraft zu sein.
Ich gehe jeden Tag, egal wo ich bin. Gerade waren wir auf Bali, da bin ich allerdings wirklich wenig gelaufen. Der Verkehr ist einfach mörderisch. Aber ich bin ganz oft mit dem Motorroller raus gefahren, in die Reisfelder und habe dort den Bauern zugesehen, wie sie in Einklang mit der Natur leben. Ein Traum. Wenn ich bei Konferenzen oder im Kundenauftrag unterwegs bin, gehe ich jeden Morgen meine Runden. Diese sind dann manchmal kürzer als sonst, aber eine Stunde ist es immer. Ich gehe da, wo ich bin, zum Beispiel buche ich mit Absicht mein Hotel immer ein Stück weg vom Tagungsort. Dann trickse ich meinen Schweinehund einfach aus, weil ich ja irgendwie zum Tagungsort kommen muss. Dort wechsele ich dann vom Turn- zum Absatzschuh und fertig ist mein Halbtagspilgertag.
Du kannst überall was Spannendes, Nachdenkenswertes entdecken, auch im dichtesten Stadtverkehr. Anschließend oder vorher schreibe ich oft viele Seiten in meinem Tagebuch. Denn das ist die Reflexion, die das Halbtagspilgern so richtig rund macht.
Ich komme in Kontakt mit meiner Essenz, mit meiner Seele, mit meinem Herzen. Immer öfter kann ich das ewig schnatternde Monkey Mind ausschalten und mir selbst wirklich begegnen. Ohne Ego, ohne Zwänge. Wenn ich halbtagspilgere bin ich frei. Das Wesentlichste war aber die Erkenntnis, dass die tägliche Portion Achtsamkeit für mich (und viele andere) möglich ist ohne seinen Beruf oder seine Familie zu vernachlässigen. Dadurch, dass ich so in meiner Kraft bin, kann ich extrem effektiv und kreativ meine Arbeit angehen. Und: Pilgern als achtsamer Gang durch die Natur erdet ungemein. Du erkennst, dass alles mit allem verbunden ist und dass wir Teil von einem Ganzen sind. Und dann regen dich viele Kleinigkeiten unseres modernen Lebens gar nicht mehr auf.
Wandern ist Bewegung in der Natur. Pilgern ist Wandern zu mir selbst. Jeden Tag.
Der Mensch sollte in der Balance sein. Balance bekommst du durch das richtige Maß an Selbsterkenntnis, Abstand zum Alltag und Achtsamkeit. Das alles vereint mein Konzept.
Mein Wort ist Freiheit. Achtsame Kommunikation mit sich selbst und mit anderen ist mein Lebensthema, das sich durch das Meditieren mit den Füßen, das Halbtagspilgern manifestiert. Ich blogge mehrmals pro Woche auf www.halbtagspilgern.de, habe Das Warum-Buch geschrieben, das du als Print-, Online- oder Hörbuch kaufen kannst. Ich biete Workshops und Retreats zum Halbtagspilgern an. Derzeit plane ich gerade einen Kurs für ein Schweige-Schreib-Pilger-Retreat. Darüber können sich Deine Leser gerne in meinem Newsletter, der einmal wöchentlich erscheint und viele kurzweilige Inspirationen für die tägliche Portion Achtsamkeit enthält, auf dem Laufenden halten.
Meine Leser sind Männer und Frauen, Unternehmer und Angestellte. Kurz, alle, die einen stressigen Job haben. Diese Menschen spreche ich mit Halbtagspilgern an. Halbtagspilgern ist durchaus auch ein Konzept zur Bindung von Mitarbeitern. Ich habe das erfolgreich in meinem eigenen Unternehmen umgesetzt, das übrigens komplett ortsunabhängig arbeitet.
Denn die Sehnsucht, sich selbst zu erkennen, steckt in jeder Seele, in jedem Menschen. Je näher du deiner Essenz kommst, umso stärker und konzentrierter bist du in deiner Kraft. Das Leben wird zum Fluss. Alles fließt zu dir, wenn du dafür offen bist und wenn du dafür losgehst. Dabei helfe ich durch meine Texte, meine Bücher und meine Kurse sowie Vorträge.
Auf jeden Fall geht Pilgern auch durch die Stadt. Auch die Pilgerwege führen immer wieder durch Städte, sie sind heute wie damals wichtige Versorgungspunkte gewesen. Und in der Stadt – in jeder Stadt, gibt es Grün. Oder einen Grünstreifen. Oder einen breiten Gehweg. Oder einen kleinen Kanal, eine Gartensparte. Vorgärten, an denen du lang pilgern kannst. Das wichtigste ist nicht, wo du es tust. Wichtig ist, dass du es tust und dir die Zeit nimmst für dich, dass du losgehst. Dass du dich selber lieb hast. Danach kommt alles Weitere. Hier habe ich darüber geschrieben, wie ich durch Hamburg pilgere: https://www.halbtagspilgern.de/schnell-meditation-fur-kunstler/
Liebe Jana, ich finde, das ist eine wunderbare Idee und ich werde das Halbtagspilgern selbst ausprobieren. Wer hat solche Erfahrungen schon gemacht? Freue mich über Kommentare oder auch Fotos.
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